Bevor die Beziehung eines Christ zum Staat, in dem er lebt, aus biblischer Sicht untersucht werden soll, lohnt es sich, den Hintergrund etwas genauer zu untersuchen. Salopp gesprochen könnte man fragen: Warum ist die Beziehung zwischen Staaten und ihren Bürgen oft angespannt? Würden alle Staaten die Freiheit der Bürger achten und würden alle Bürger die Gesetze des Staates befolgen, könnten viele Probleme gelöst werden. Hier ist nicht der Raum für eine umfassende Analyse, aber ein generelles Problem soll dargestellt werden, nämlich das Vertrauensdefizit.
Dieses Problem besteht in großen Organisationen häufig und betrifft damit auch Staaten. Vereinfacht gesagt kann der Staat nicht feststellen, ob er allen Bürgern vertrauen kann und die Bürger können nicht feststellen, ob sie den staatlichen Organen vertrauen können. Daraus ergibt sich ein Problem. Dazu muss man sich anschauen, wofür Vertrauen nötig ist.
- Beispiel
Angenommen man möchte jemanden damit beauftragen, den Einkauf zu erledigen. Dann kann man sich eine beliebige Person suchen
und diese Schritt für Schritt überwachen, während sie den Einkauf übernimmt. Damit hat man aber nichts gewonnen. Denn die Überwachung
ist genauso aufwendig, wie den Einkauf selbst zu erledigen. Ein Gewinn ergibt sich erst, wenn man eine Person auswählt, der man vertraut,
und diese den Einkauf selbstständig erledigen lässt.
Hier sieht man die wesentliche Funktion von Vertrauen: Es verringert die soziale Komplexität. Vertrauen bedeutet in diesem Kontext, dass man davon ausgeht, jemand wird eine gestellte Aufgabe erfüllen, ohne überwacht werden zu müssen. Es ist schwierig, Vertrauen so zu beschreiben, dass damit alle Einzelfälle abgedeckt sind. Zur Verdeutlichung genügt aber bereits ein Modell, bei dem man sich auf lediglich zwei Aspekte beschränkt, nämlich Wohlwollen und Tauglichkeit, welches hier genügt. Am gegebenen Beispiel stellt sich also folgendes dar. Man wählt für den Einkauf keine zufällige Person, sondern jemanden, den man kennt. Andernfalls könnte man die Bedingungen für Vertrauen nicht prüfen. Aus diesen bekannten Personen wählt man nun eine aus, die einerseits fähig ist, den Einkauf zu erledigen. Muss der Einkauf beispielsweise per PKW transportiert werden, scheiden alle ohne Fahrerlaubnis aus. Das ist die Tauglichkeit. Zum anderen schränkt man die Auswahl auf diejenigen ein, von denen zu erwarten ist, dass sie mit dem anvertrautem Geld den Einkauf erledigen und nicht sich selbst bereichern. Das ist das Wohlwollen. Wie schon erwähnt handelt es sich dabei um ein einfaches Modell, aber es genügt um das Vertrauensdefizit zu erklären.
In der Beziehung zwischen Staat und Bürgern können nun generell beide Bedingungen für Vertrauen nicht erfüllt werden. Zur Einschätzung des Wohlwollens bedarf es einer persönlichen Beziehung, die nicht vorhanden ist. Die Feststellung der Tauglichkeit scheitert an den verschiedenen Weltanschauungen, die jeweils andere Eigenschaften einer Person als tauglich einschätzen. Ein Staat und seine Bürger sind also gezwungen gemeinsam an verschiedenen Aufgaben zu arbeiten, während es ihnen zugleich unmöglich ist, dass dafür nötige Vertrauen aufzubauen. Diese Spannung ist nicht die einzige Ursache für Ärger und Konflikte innerhalb von Staaten, aber es ist ein grundlegendes Problem, dessen man sich bewusst sein sollte. Es ist natürlich möglich, das Regierungen dieses Vertrauensdefizit durch ihr Handeln verstärken oder verringern, aber es lässt sich nicht auflösen. Wer die Frage beantworten möchte, warum es auch in scheinbar stabilen Gesellschaften schnell zu Massenprotesten kommen kann oder warum Staaten dazu tendieren, Freiheit ab- und Überwachung aufzubauen, der wird kaum an der Einbeziehung dieses Vertrauensdefizits in eine Erklärung vorbeikommen. Nun stellt sich die Frage, wie man mit dieser Neigung zu Konflikten zwischen dem Staat und seinen Bürgern umgeht. Zur besseren Einordnung seien zunächst einige menschliche Ansätze betrachtet. Danach soll es um den biblischen Ansatz gehen, wie er im Römerbrief beschrieben wird.
- Ansatz der Verringerung des nötigen Vertrauen
Anstatt davon auszugehen, dass einzelne zuständige Stellen fehlerfrei und allwissend ihre Aufgaben erledigen, teilt man die Aufgaben auf mehrere Verantwortliche auf,
die sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. Im Kern kann man darin sogar biblische Prinzipien wie Demut und gegenseitigen Dienst erkennen.
Im Staatswesen findet man diese Idee als Gewaltenteilung. In der Ökonomie findet man sie als Marktwirtschaft. Dieser Ansatz funktioniert insgesamt
ziemlich gut und viele moderne Staaten stabilisieren sich über diesen Mechanismus. Er hat aber auch Grenzen, denn wie anfangs erläutert verringert
Vertrauen die soziale Komplexität. Verringert man das Vertrauen, steigt sie also wieder. Letztlich wird man nicht fertig werden, alles zu überwachen
und jeden zu hinterfragen. Dieser Ansatz ist möglicherweise der beste, den die Menschheit bisher erfunden hat, aber er dämmt das Problem nur ein.
- Ansatz der Radikalopposition
Da man dem Staat nicht vertrauen kann, muss der Staat weg. Mach kaputt, was dich kaputt macht. Das System ist krank. Solche Sprüche mögen mitunter ihre Anhänger finden,
aber das Vertrauensdefizit ist einem Staat eigen. Es entsteht aufgrund seiner Größe und Organisation. Selbst die Abschaffung des aktuellen Systems wird es nicht lösen, denn jeder neue Staat wird es wieder haben.
Aus christlicher Sicht ergibt sich weiterhin das Problem, dass eine Ablösung des aktuellen Systems selten gewaltfrei möglich ist.
- Ansatz der Unfehlbarkeit des Staates
Anstatt sich in die Hoffnung auf die Abschaffung des Staates zu flüchten, kann man sich auch in die Hoffnung auf seine Perfektionierung flüchten. In einem Teil
Deutschlands hieß es vor einigen Dekaden noch, die Partei habe immer Recht. Aber wer meint, solche einfache Propaganda sei überholt, der vernachlässigt, wie vieles
heute mit dem Kampf für Demokratie gerechtfertigt wird. Die Demokratie hat zweifellos ihre Vorteile, aber sie schafft keinen perfekten Staat.
Die Perfektionierung des Staates als Lösung zu betrachten, ist genauso eine Täuschung.
- Ansatz der Flucht in Phantasiewelten
Es gibt diese Phantasiewelten in vielen Arten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich mit der Unbestimmtheit der Realität nicht abfinden wollen. In diesen Phantasien
ist immer alles klar. Es gibt keine unbekannten Hintergründe. Man kennt alle geheimen Absprachen. Man kennt alle Schuldigen. Die ideale Lösung ist genauso bekannt wie
diejenigen, die Schuld daran sind, dass diese Lösung noch nicht umgesetzt wurde. Diese Phantasiewelten sind attraktiv, weil sie das Vertrauensdefizit auflösen.
Wenn man alles weiß, braucht man kein Vertrauen mehr. Phantasie war aber noch nie eine Lösung. Man kann sich zwar vorstellen, fliegen zu können, das wird die
Schwerkraft aber nicht aufheben. Auch aus christlicher Sicht kann man dies nur verwerfen. Selbst auf die Gemeinde bezogen soll man nicht vor der Zeit urteilen
(1. Kor 4,5). Insofern darf man wohl noch mehr von der Welt annehmen, dass es Verborgenes gibt, das erst Jesus als Licht bringen wird. Man muss sich damit abfinden,
in einer unbestimmten Welt zu leben.
Man sieht also, dass es menschlich keine Lösung gibt, die dafür sorgt, dass Staaten und ihre Bürger dauerhaft und konfliktfrei zusammenarbeiten. Wie kann man es nun aus christlicher Sicht lösen? Die Antwort ist: Man vertraut nicht dem Staat oder der Regierung, sondern Jesus. Dies wird im Römerbrief gut erklärt (Röm 13,1-8).
Damit löst sich das Vertrauensdefizit, denn Jesus kann man persönlich kennen und vertrauen. Aber ist das nicht zu einfach gedacht? Schließlich handeln viele Regierungen offensichtlich dem Willen Gottes entgegen. Wer akzeptiert, was im Römerbrief steht, kann dies nur verneinen.
Jede Regierung ist von Gott eingesetzt und anders als bei den Menschen geht bei Gott Authorität und Verantwortung immer einher. Es mag Segen freisetzen, wenn Regierungen dem Willen Gottes folgen, aber auch jene, die ihm widerstreben, entgehen nicht ihrer Verantwortung. Man muss seine Hoffnung nicht darauf setzen, dass alle bösen Machenschaften hier und heute aufgedeckt und bestraft werden. Gott selbst wird dafür sorgen.
Da jede Regierung von Gott eingesetzt ist, ist es auch anmaßend, sie abzulehnen. Wer der von Gott verordneten Regierung widerstrebt, widerstrebt Gott. Das zu tun ist eine große Dummheit. Wer nach dem Willen Gottes trachtet, der sollte auch einsehen, dass man unter der Regierung lebt, die Gott eingesetzt hat. Damit gehört es zum Folgen des Willens Gottes, sich dieser Regierung unterzuordnen. Es kann nur scheitern anzunehmen, man könne selbst eine bessere Regierung finden als jene, die Gott selbst verordnet hat.
Interessant mag noch die Frage nach den Steuern sein. Aus ökonomischer Sicht sind Steuern ein Raub und man könnte meinen, dass zumindest dieser Raub abzulehen sei. Aber selbst dies wird verneint. Die Regierungen werden als öffentliche Angestellte Gottes bzw. (je nach Übersetzung) als Gottes Beamte bezeichnet. Damit lässt sich annehmen, dass Gott seine Angestellten auch wieder entlässt. Ein Christ ist nicht der Chef, der über Einstellung und Entlassung entscheidet. So wie man im persönlichen Leben der Führung Gottes vertrauen sollte, weil Gottes Weisheit das eigene Erkennen weit übersteigt, so darf man auch darauf vertrauen, dass er die Leute eingestellt hat, die er einstellen wollte, und das er sie entlässt, wenn es seinem Plan entspricht.